Dieser Artikel entstand aus der gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem Begriff Erfahrung zwischen Dr. Kurt Wöls und meiner Person. Die nachfolgenden Unterscheidungen sind aus unserer Sicht für ein besseres Verständnis des Begriffs Erfahrung notwendig.
HATANO und INAGAKI postulieren in diesem Zusammenhang eine Unterscheidung zwischen Routineexpertise und adaptiver Expertise. Routineexpertise zeichnet sich durch die Automatisierung von Handlungsvorgängen aus, adaptive Expertise durch die Flexibilisierung von Handlungsvorgängen. Routineexpertise (Erfahrungswissen des Praktikers) kann als Zielpunkt der Entwicklung des Fertigkeitserwerbs im Rahmen der ACT-Theorie gesehen werden. Adaptive Expertise (Erfahrungswissen des Experten) wird als Fähigkeit gesehen, Wissen in vielen unterschiedlichen Situationen anwenden zu können.
Auf individueller Ebene sind es daher zwei prinzipielle Formen von Erfahrungswissen, die im betrieblichen Kontext als relevant erscheinen:
- Beim Erfahrungswissen des Experten steht hauptsächlich die strukturelle Komponente von Erfahrungswissen im Vordergrund. Die von Novizen verschiedenen Wissens-, Erwartungs-, Wahrnehmungs- und Relevanzstrukturen bilden zusammen mit umfangreichem deklerativem und prozeduralem Wissen die individuelle Kompetenz des Experten. Diese Strukturen ermöglichen die rasche Interpretation von Problemsituationen und ein schnelles Reagieren in Entscheidungssituationen. Zusätzlich ermöglichen diese Strukturen einen Transfer von Wissen und Erfahrung auf neue Situationen.
- Das Erfahrungswissen des Praktikers dient hauptsächlich der Kompetenz in Zusammenhang mit dem Ausführen von Handlungen. Durch Erfahrung werden Handlungsabläufe hinsichtlich Geschwindigkeit und Genauigkeit verbessert. Es handelt sich hierbei um eine Verfeinerung prozeduralen Wissens durch oftmalige Wiederholung. Erfahrungslernen durch direkte Erfahrung und teilweise durch Beobachtung tragen bei dieser Ausprägung von Erfahrungswissen zum individuellen Kompetenzaufbau bei.
Zum Erfahrungswissen des Praktikers und des Experten auf individueller Ebene können Analogien zu organisationalen Fähigkeiten gebildet werden.
- Für prozessorientierte Organisationen (vorwiegend produzierende Unternehmen) liegt der entscheidende Wettbewerbsvorteil darin, Kernprozesse mit größter Genauigkeit und Geschwindigkeit wiederholt durchlaufen zu können und somit kompetent zu beherrschen. Durch Prozessmanagement und kontinuierliche Verbesserung auf Basis organisationalen Lernens wird hier organisationales (Erfahrungs-)Wissen ständig aufgebaut und angepasst. Es handelt sich dabei um organisationales (Erfahrungs-)Wissen von prozessorientierten Unternehmen.
- Bei projektorientierten Organisationen (vorwiegend Dienstleistungsunternehmen) liegt ein großer Teil der Wettbewerbsfähigkeit in der hohen Problemlösungsfähigkeit und flexiblen Anwendung verfügbaren Wissens begründet. Bei diesen Unternehmen steht die Fähigkeit vorhandenes Wissen auf immer wieder neue Problemstellungen und Kontexte anwenden zu können im Vordergrund. Die hohe Vernetztheit und Flexibilität der organisationalen Wissensbasis resultiert beispielsweise aus langjährig aufgebauten Netzwerken zwischen Kunden, Partnern und externen Wissensquellen sowie interner Organisationsstrukturen. Es handelt sich dabei um organisationales (Erfahrungs-)Wissen von projektorientierten Unternehmen.
Beiden oben beschriebenen Formen des organisationalen Wissens ist gemeinsam, dass der Aufbau dieser Wissensarten zeitaufwändig ist. D.h. das dieses organisationale Wissen, vergleichbar mit dem individuellen Erfahrungswissen des Praktikers und des Experten, durch die andauernde Auseinandersetzung mit einem speziellen Kontext aufgebaut werden muss.
Literatur:
- Hatano, G.; Inagaki, K.: Two courses of expertis, in: Stevenson, H.W.; Azuma, H.; Hakuta, K. [Hrsg.]: Child development and education in Japan, New York 1986, S. 262-272
- Anderson, J.R.: Kognitive Psychologie, Heidelberg 1988
Lieber Bernd!
Die beiden Formen des Erfahrungswissen sehe ich auch etwas anders begründet:
handelt es sich um Erfahrungen aus Erlebnissen, Handlungen o.ä., ist zunächst ja die Verarbeitung bei der betroffenen Person erforderlich. Gelingt dies gut, kann die Person diese Erfahrung in seine Wissensstrukturen einbetten, vergleichen und auch strukturiert präsentieren – er hat die verarbeiteten Erfahrungen zu Konzepten entwickelt und diese in seinen Wissensstrukturen verankert. Dadurch ist es ihm leichter möglich, sich anhand von Strukturen zu orientieren, neues daraus abzuleiten.
Dem Praktiker fehlt oft die Zeit, Musse, aber auch mal das Können, sein Handeln entsprechend zu reflektieren, bevor er wieder zu handeln hat. In dieser Situation helfen strukturen wenig, erfordert es eher die vereinfachte & bewertete „Vorauswahl“ an Informationen, um für den nächsten Schritt (oder die Wiederholung des letzten Schrittes) gerüstet zu sein; zumal der Praktiker nicht nur das abstrakte Erfahrungswissen lesen und verstehen, sondern auch noch in professionelle Handlung umzusetzen hat.
D.h. meiner Meinung nach sind es die Sichtweisen und der Erfahrungshintergrund, die den unterschiedlichen Zugang zu Erfahrungen nötig machen.
In Organisationen – das sehe ich so wie Du – entspricht die Prozessorganisation eher der zweiten Vorgansgweise (Prozesse sind ja immer noch vereinfachte, im Extremfall linearisierte, wiederholbare Abläufe). Dahingegen ist die Projektorganisation eher mit der ersten Sichtweise auf Erfahrungswissen besser bedient, da in Projekten idR viel Kreativität, Flexibilität und nur weniger wiederholtes, bekanntes vorkommt; deswegen auch der Zugang zu Erfahrungen vermutlich effizienter über Strukturen und sichtbaren Vernetzungen erfolgt. Gerade in Projekten scheint mir ein Problem in der Differenzierung des Wissens über Projekte und des Wissens aus/von Projekten relevant für mehr Klarheit und Effizienz in der Abwicklung zu sein.
In beiden Fällen wird es nicht erspart bleiben, diese Erfahrungen individuell und kollektiv zu überprüfen, eventuell erneut einzubetten (in die konkreten Wissensstrukturen des behandelten Themas) und daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen.
Herzlichen Gruß!
Michael Fegerl